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Welt aus Wachs – von Stephan Trescher

Welt aus Wachs

von Stephan Trescher

Wachs dient zum Leuchten, Pflegen, Heilen, Isolieren, aus Wachs macht man Kerzen und Fackeln, Salben und Cremes, Kitt und Ohrstöpsel, von Odysseus bis Ohropax - aber Kunst? Zwar wurde Wachs in der antiken Malereitechnik der Enkaustik als Bindemittel verwendet, dient bis heute zur Herstellung von Totenmasken, Krippen- und Votivfiguren, kommt ihm in der Skulptur eine Hilfsfunktion zu als Bozzetto und Modell, oder im Wachsausschmelzverfahren als Vorstufe für die endgültige Bronzegußform. Aber als kunstwürdiges Material ist Wachs so gut wie unbekannt.
Inge Gutbrod gelingt es, das Wachs aus den Beschränkungen dieser Nebenrolle zu befreien und ihm einen Platz im Rampenlicht zu verschaffen. Diese Aufwertung des "uneigentlichen" Materials Wachs zum Hauptakteur wird besonders augenfällig, wo die Künstlerin den größtmöglichen Sprung wagt, dahin, wo man den Werkstoff am allerwenigsten vermuten würde: in der Architektur. 

Wand, Turm und Tor

Die erste architektonische Großplastik entstand 1995, der Raum aus Wachs. Hierfür entwickelte Gutbrod das Verfahren, nach dem sie bislang auch alle weiteren wächsernen Architekturen errichtet hat: In ein tragendes Gerüst aus schmalen schwarzen Eisenprofilen werden industriell gefertigte Paraffinplatten im Format 29,5 x 45,5 cm eingepaßt und so von unten nach oben "aufgemauert", (d. h. durch Metallstifte mit den horizontalen Eisenbändern verbunden und durch in mühseliger Handarbeit eingeschnittene Aussparungen eng mit dem Trägergerüst verzahnt), daß eine geschlossene, weiß-wächserne Wandfläche entsteht, die durch die schwarzen Eisenstege optisch in ein rechteckiges Raster unterteilt wird. 


Im Falle des Raum aus Wachs fügen sich zwei lange und zwei schmale Seiten mit einer in gleicher Manier konstruierten Decke zu einem geschlossenen hochrechteckigen Quader, der durch eine türartige Aussparung an einer der Schmalseiten betreten werden kann. 
Diese Öffnung erschließt tatsächlich ganz neue Dimensionen, denn nur indem der Raum begehbar wird, erhält die streng geometrische Skulptur, als die man das Wachsgebilde bisher betrachten konnte, seine architektonische Qualität. Aus dem plastischen Volumen wird ein umbauter Raum, eine nicht mehr bloß imaginäre, von einer sichtbaren Hülle umschlossene Hohlform, sondern eine Behausung mit einem Innen und einem Außen.


Diese Änderung der Wahrnehmung setzt voraus, daß sich der Betrachter auf das Angebot einläßt und den Raum tatsächlich betritt. Ihrer prinzipiellen Offenheit zum Trotz sind den Wachsarchitekturen doch ganz unterschiedlich hohe Hemmschwellen eigen. Während der Raum aus Wachs ein Hereinzwängen des Betrachters erfordert und die enge Öffnung als Ein- und Ausgang zugleich dient, was der Skulptur sowohl die anheimelnden als auch die bedrohlichen Aspekte einer Höhle verleiht, ist das Tor zur Welt derart offen gestaltet, daß der Betrachter sich förmlich zum Verweilen zwingen muß, so sehr lädt die Architektur zum Durchschreiten ein. Die hochragende Form des tower bietet mit ihren über Eck gestellten Türeinschnitten dem Besucher die meisten Möglichkeiten des Betrachtens und Betretens, von innen und außen, und ist so im wahrsten Sinne des Wortes die zugänglichste unter den drei Architekturen. 


Weiter geht nur die Arbeit mobil, die bloß noch die Möglichkeit von Architektur in sich trägt: Ein Ensemble von fünf Wänden, das in immer neuen Aufstellungen als gestaffelter Paravent-Parcours, offenes Labyrinth oder geschlossener Raum Gestalt annehmen kann. Bei mobil wird auch die Nähe der Wachsbauten zu Formen japanischer Architektur am deutlichsten sichtbar. Die traditionellen shoji, mit Reispapier bespannte Holzgitterwände, sind sowohl beweglich als auch transparent, erlauben eine sehr variable Innenraumgestaltung und wirken auch optisch, als dunkles, meist schwarzes geometrisches Raster mit weißer Ausfachung, den Arbeiten Gutbrods sehr ähnlich. Diese gleichförmige, repetitive Struktur verleiht den Wachsarchitekturen ihre Strenge; sie kann, sofern sie auch die Decke mit einbezieht, neben Ruhe auch Orientierungsverlust beim Betrachter auslösen. 


In erster Linie wird die Raumerfahrung jedoch durch die jeweiligen Lichtverhältnisse geprägt. Sie bestimmen sowohl Farbe als auch Grad der Transparenz des Materials und lassen so einmal die gelblich warm schimmernden Marmorierungen der Alabasterfenster in mittelalterlichen Kirchen, dann wieder die faserige Leichtigkeit des Reispapiers oder gar die Eisblöcke eines Iglus assoziieren.
Je nach Lichteinfall nimmt man auch mehr die glatte, glänzende Oberfläche der Paraffinplatten wahr oder die Verwerfungen, Schlieren und eingeschlossenen Luftblasen im Inneren des Materials. Die durchscheinende Undurchsichtigkeit des Wachses verleiht sowohl der Raum- als auch der Selbstwahrnehmung des Betrachters etwas Unwirkliches, das Licht diffundiert nach allen Seiten, der temporäre Bewohner dieser Wachsräume fühlt sich ganz in milchigem Licht gebadet, in leuchtende Watte verpackt.

In die weiße Welt hinein
Doch nicht allein die Innenwelt von Skulptur und Betrachter hat Inge Gutbrod im Blick, wenn sie ihre Wachsbauten errichtet: In ihrem groß angelegten Projekt my world nimmt sie Wesenszüge unserer mobilen Reise-Gesellschaft auf, um sie auf sehr persönliche Weise zu konterkarieren. An den Flughäfen von Nürnberg, Omaha und Glasgow errichtete sie nacheinander und jeweils für nur kurze Zeit drei ihrer architektonischen Skulpturen. Durchgangsorte, die sie sind, fanden die Wachsräume damit einen angemessenen Aufstellungsort. Zugleich wurden sie mit symbolischer Bedeutung aufgeladen, das Tor zur Welt war nun tatsächlich Ort des Aufbruchs, der tower wurde sowohl zum exportierten Wahrzeichen der Heimatstadt, zur festen Burg, als auch zum wesentlichen Bestandteil jedes Flughafens, das geschlossene Sanktuarium des Hauses zum Endpunkt der Reise um die Welt. 


Dabei entsprach die kurze Verweildauer der Kunst am Ort dem flüchtigen Aufenthalt der Menschen an solchen Stätten des Transits; allein die Nachwirkungen der Kunst könnten von Dauer sein. Denn im Unterschied zu den Flughäfen sind die Wachsräume zugleich auch Orte der Transformation - Trafohäuschen des Geistes. Sie stellen der schieren Funktionalität der Umgebung einen "zweckfreien" Raum entgegen und sind geeignet, den Besucher aus dem Rhythmus des Fernreisealltags zu reißen. Darüber hinaus wird er in die Lage versetzt, die ideelle Verknüpfung der drei Installationsorte nachzuvollziehen. Diese Reise, abseits der gewöhnlichen Flugrouten, die jene ganz unwahrscheinliche Strecke Nürnberg-Omaha-Glasgow beschreibt, findet nur im Kopf statt und ist gerade deshalb der in ihrer Routine langweilig gewordenen Flugreise in manchem überlegen.

Serielle Seerosen
Dem Menschen gemäßer als eine Flugreise ist sicherlich der Fußweg, und so beschritt Gutbrod über die Wachsplatten von go to pot einen Weg zurück zur Natur, der sie schließlich zu den Seerosen führte. Hier wie dort bestimmt die Addition vieler gleichartiger Einzelteile den Charakter des Werkes. Im Unterschied zu den Bauteilen des leuchtenden Pfades im Garten sind die runden Scheiben der Seerosen jedoch handgegossen, wir haben es hier also sozusagen mit einer manufakturiellen Form von Serialität zu tun. Daß wir die strenge Gleichförmigkeit nicht so ohne weiteres wahrnehmen, hat sicher damit zu tun, daß die Künstlerin diesmal der Natur ein noch viel größeres Mitgestaltungsrecht an ihrer Arbeit eingeräumt hat als in go to pot. Die Scheiben sind untereinander zwar durch so gut wie unsichtbare Nylonfäden verbunden und auch am Grund des Teiches verankert, aber dennoch können sie verhältnismäßig frei auf dem Wasser treiben, so daß sich ihre Gesamtgestalt beständig verändert. Im Laufe ihres Seeaufenthalts wurden die weiß schimmernden Scheiben immer grünlicher, veralgten allmählich, setzten Moos an. Bei einer dauerhaften Anbringung wäre ein Aufgehen der wächsernen Scheiben in der Natur wohl unausweichlich. Aber schon auf halbem Wege ihres Verschwindens wurde die Kunst von den Bewohnern des Feuchtbiotops als praktikabler Naturersatz adaptiert: Fische stießen sich daran und Frösche nahmen darauf Platz. Offenbar ist die Assoziation an Seerosen zwingend, obwohl es sich doch um eine strikt geometrische Kolonie kreisrunder Scheiben handelt. Auch wenn man in Betracht zieht, daß durch die in allen Grüntönen leuchtende Umgebung das neutrale Weiß der Wachsscheiben bisweilen einen rosigen Schimmer annehmen konnte, so bleibt es doch erstaunlich, daß dies In-eins-Setzen von Blatt und Blüten der Seerosen in den Augen des Betrachters so klaglos akzeptiert wird - und kein Mensch etwa auf die Idee käme, in dem Werk eine Horde schwimmender Bierdeckel zu erkennen. 


Noch etwas verdient besondere Beachtung, obwohl wir es bislang für vollkommen selbstverständlich hielten: Die Seerosen schwimmen. Durch dieses schwerelose Treiben heben sie sich deutlich von anderen Arbeiten Gutbrods ab, die aus der Spannung zwischen tatsächlicher Schwere des Materials und Leichtigkeit der Erscheinung einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung beziehen.

Die Gute Stube 

Zwischen den tonnenschweren Monumentalplastiken und den filigranen, frei flottierenden Blütenblättern sind die "Möbelstücke" anzusiedeln. Während die erstgenannten, beide im öffentlichen Raum plaziert, das Wechselverhältnis mit Architektur und Natur thematisieren, sind letztere noch am ehesten als autonome Skulptur zu begreifen. Ihr Gebrauchscharakter existiert nur in der Erinnerung des Betrachters.


Entsprechend ist das Ensemble, das die Künstlerin für die Ausstellung Tisch-Kultur geschaffen hat, namenlos. Zieht man bei der Betrachtung jedoch den Ausstellungstitel hinzu, wird man unweigerlich an einen Tisch mit darangerückten Sitzbänken denken. Obwohl man an den Fugen erkennen kann, daß auch diese Arbeit nicht aus einem Guß ist, sondern aus zusammenmontierten Paraffinplatten besteht, wirkt sie doch als wuchtig geschlossenes Ganzes. Dabei drängt sich der Begriff der Verkleidung auf: Sowohl im Sinne einer Ummantelung bereits existierender Möbelstücke, als auch in der Bedeutung von Maskerade und Tarnung. Hier leistet erneut das Material Wachs der Vermutung Vorschub, es müsse noch ein Dahinter geben. Man spürt, daß der Blick tiefer dringt als bis an die marmorgleiche Oberfläche, aber man kann die Wachswand optisch nicht durchdringen, weiß nicht, ob unter der Außenhaut eine andere Form zu vermuten ist, ob die Skulptur in ihrem Kern einen Hohlraum birgt oder weitere weiche Materie.

 
Mehr dem Organischen zugeneigt als der strengen Geometrie, aber ebenso vieldeutig wie ihre Möbel sind die Wachsvasen und -gefäße von Inge Gutbrod. Was sich da als Ansammlung von Schaustücken in Vitrinen, auf Regalen und Borden drängt, setzt eine Flut von Assoziationen frei: Werkzeug- und Fahrradlenkergriffe, Balustraden- und Geländerelemente, Phallisches, Kelche und Birnen. Die geknetet, gedrechselt, getöpfert oder gegossen wirkenden Formen treten nie als Einzelstück auf, sondern immer im Ensemble. So wird man der Weichheit des Materials gewahr, man sieht wie organisch sich Metamorphosen von einer Form zur anderen ergeben, wie alles in einem beständigen Strom der Verwandlung fließt, als würde das Wachs sich von selbst chamäleonartig seine Form suchen. Mit dieser Variationstechnik knüpfen die Vasen an die seriellen Arbeiten in Gutbrods Œuvre an; deutlicher jedoch als andere Werke sind diese Gefäßformen "reine" Skulpturen, indem sie das Haptische so sehr betonen und in ihren verschiedenen Grautönen die Transparenz des Materials fast vergessen machen.

Tanz den Gerhard Richter

Graustufen und verhaltene Transparenz sind auch die wesentlichen Charakteristika von Gutbrods tiles. Ihren Wachsfliesen über der Küchenzeile fehlte zur Perfektion eigentlich nur eines: die Pril-Blumen. Und siehe da: Die Farbe brach sich Bahn, die quadratischen Wachsplatten mußten ja nicht unbedingt mit Klebebildchen von der Spülmittelflasche verziert werden, sie selbst waren die viel besseren Farbträger. Allmählich verwandelten sich die diversen Grau- in ganz verschiedene Rot-, Gelb und Orangetöne und nichts war mehr so, wie es einmal war. 


Da die farbigen Platten aber grundsätzlich weniger transparent wirken als ihre bleichen Ahnen, konnten sie als Wand- und Bodenarbeiten noch nicht voll zur Geltung kommen. So ergab sich der nächste Entwicklungsschritt fast zwangsläufig: Mit come and have a closer look entstand Gutbrods erster Leuchtkasten. Konzipiert als janusköpfiges Werk mit einer "Tag-" und einer "Nachtseite" (das heißt, die elektrische Beleuchtung wird erst durch einen Bewegungsmelder eingeschaltet, den ein näherkommender Betrachter auslöst), bietet es zwei ganz unterschiedliche Ansichten. Schon im unbeleuchteten Zustand kann man die reliefartigen Verwerfungen und Verschiebungen innerhalb der einzelnen Quadrate und die dunkle Harmonie der opaken Flächen bestaunen. Geht dann das Licht an, sieht man nicht nur ein gänzlich anderes Farbspektrum, sondern noch deutlicher die aquarellartig zarten Farbverläufe, die jedes Quadrat beleben. Das rückt diese leuchtenden Bilder viel näher an die zugleich organischen und streng strukturierten Aquarelle eines Paul Klee als beispielsweise an die Rasterbilder eines Ellsworth Kelly oder Gerhard Richter. 


Was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß Inge Gutbrod mit ihren Leuchtkästen etwas ganz eigenständiges gelungen ist. Sie verschmilzt die Binnenstrukturen ihres lebendigen Werkstoffes mit der rigiden geometrischen Ordnung ihrer Wachsarchitekturen, sie verwandelt das kalte, gleichmäßige Neonlicht in ein Mosaik aus lauter einzelnen, warm leuchtenden Waben, die oft, durch ihre konzentrischen Einbuchtungen, über eine jeweils eigene Lichtquelle zu verfügen scheinen. Diese Verschränkung von Architektur und Skulptur malt mit Licht und weckt Erinnerungen an Kirchenfenster und Discothekenfußböden zugleich. Sie verrückt die Wirklichkeit unserer Welt ein Stück: Die Wand wird zum Fenster, der Boden unter unseren Füßen geht die Wände hoch: let´s dance

Dialektik der Transluzenz – von Stephen Wright

Die Dialektik der Transluzenz

von Stephen Wright

Die Transparenz steht heutzutage hoch im Kurs. Als zugrundeliegendes Prinzip für gutes Regieren, Gesetzesregel und Freiheit des Ausdrucks genießt die Transparenz den Status eines selbstverständlichen Wertes. Wer würde letztlich eine Idee anfechten, die praktisch gleichbedeutend scheint mit Begriffen wie Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit? Die politische Rhetorik ist voll des Lobes für die Transparenz – zurecht, denn war es nicht letztlich Glasnost, diese besondere sowjetische Spielart der Transparenz, die der Undurchsichtigkeit der anhaltenden stalinistischen Düsternis ein Ende bereitet hat? Und wo die Transparenz hoch geschätzt wird, wird die Opazität gering geachtet. Sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich klingt Opazität wie ein Synonym für Täuschung, Betrug und Heimlichkeit, während Transparenz mit Fair Play, Offenheit und Redlichkeit assoziiert wird – mit der Haltung des „Wir haben nichts zu verbergen“. Aber stellen Sie sich nur für einen Moment eine Welt vollkommener Transparenz vor, eine Welt, in der Transparenz nicht nur ein regulatives Prinzip wäre, sondern endgültig über die Undurchsichtigkeit triumphiert hätte; wo alle in Glashäusern lebten. So eine Welt, die nicht mehr lange Science Fiction bleiben muß, wenn man von der schnellen Entwicklung und dem Einsatz der Überwachungstechnologien ausgeht, würde buchstäblich unbewohnbar sein.

Die starken fiktionalen Darstellungen dystopischer Transparenz, wie sie vor einem halben Jahrhundert von Schriftstellern wie Orwell und Huxley erdacht wurden, sind in vielerlei Hinsicht von dem übertroffen worden, was manche Autoren die „biopolitische“ Mentalität unserer fortgeschrittenen demokratischen Staaten nennen. Man könnte, grob gesprochen, diese ironische Entwicklung als die „Dialektik der Transparenz“ beschreiben: Um der Demokratie ihr Entstehen und Gedeihen zu ermöglichen – das heißt, mit verborgenen Privilegien, endemischer Korruption und jener Vetternwirtschaft, die hinter einer Mauer aus Opazität gedieh, zu brechen – mußte die Transparenz institutionalisiert werden. Als allzu wirksames Werkzeug wurde die Transparenz zum Selbstzweck und jetzt sind wir alle potentielle Opfer ihres Erfolges.

 

Gibt es nicht irgendeine Alternative zu dieser paradoxen dialektischen Gleichheit von Transparenz und Opazität? Wie wäre es mit dem theoretisch wenig beachteten Konzept der Transluzenz? Nicht als Wischi-Waschi-Kompromiß zwischen zwei Polaritäten, sondern als ein anderer Weg, sich die Beziehungen im privaten wie öffentlichen Bereich vorzustellen. In gewisser Hinsicht steht Transluzenz natürlich irgendwo zwischen Opazität und Transparenz, aber auf der anderen Seite ist sie vollkommen unverbunden mit ihnen und bietet einen gangbaren dritten Weg, um zwischen den gegensätzlichen Geboten von Intimität und Enthüllung zu vermitteln. Transluzenz ist im wesentlichen verschwommen, ungefähr, eine Art „holperiges Gelände“, auf dem man Fuß fassen kann, im Gegensatz zur reinen und eisigen Glätte der Transparenz oder der verräterischen Düsternis der Undurchsichtigkeit. Ein pragmatisches Konzept, auf dem die Art von Abstand begründet werden kann, die konstitutiv ist für menschliche Beziehungen.

 

Nun ist es so, daß Transluzenz das eigentliche Material ist, mit dem Inge Gutbrod in den vergangenen zwei Jahrzehnten gearbeitet hat – ungefähr also seit dem Zeitpunkt, da die Schlacht zwischen Transparenz und Opazität zum Gemeinplatz im politischen Diskurs wurde. Es mag unangemessen erscheinen, sich Gutbrods Werk aus einem politisch diskursiven Blickwinkel zu nähern, angesichts ihres im wesentlichen formalistischen Ansatzes. Jedoch scheint es mir so, daß die Materialwahl eines Künstlers immer geschichtlich überdeterminiert ist, und auch wenn sie nicht notwendigerweise das Ergebnis einer bewußten Wahl ist, so ist sie doch Gegenstand eines prä-reflektiven Wissens. Anders gesagt: In einem bestimmten historischen Moment scheint es zu „passen“ oder zu „funktionieren“, obwohl es das in einem anderen nicht täte. Ich würde wetten, daß Inge Gutbrod, indem sie die Transluzenz zu ihrem historischen Material macht – wenn auch indirekt, sozusagen durchscheinend – ihr eigenes Ideal sowohl von den vermittelnden Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt als auch von intersubjektiven Transaktionen offenbart.

 

Zu behaupten, Inge Gutbrods „Material“ sei die Transluzenz, bedeutet auf keinen Fall, die offensichtliche Tatsache zu leugnen, daß ihr hauptsächliches künstlerisches Mittel Paraffin ist. Im materiologischen Sinn des Wortes ist Wachs tatsächlich das „Material“ ihrer Wahl – der Stoff, aus dem die Mehrzahl ihrer Kunstwerke besteht. Natürlich ist es nun einmal so, daß Transluzenz das hervorstechende visuelle Merkmal von Wachs ist – zumindest in seinem festen Zustand, in dem es in Inge Gutbrods Kunstwerken vorkommt. Aber ich möchte die Vorstellung von „Material“ auch im Adorno‘schen Sinn des Begriffes verstanden wissen, der sich auf einen historisch definierten Bereich an Bedeutungen einer bestimmten Erscheinungsform bezieht. Indem ich das behaupte, kritisiere ich keineswegs Hans-Peter Miksch, einen der drei Kuratoren der dreiteiligen Ausstellung der Künstlerin, der schreibt, daß Gutbrod aktuellen Kunstmoden wie der Gender-Problematik aus dem Weg geht. Seine Beobachtung ist vollkommen richtig – Gutbrods Ästhetik ist formal bestimmt, nicht thematisch begründet. Worum aber dreht sich die Geschlechterpolitik, wenn nicht um den Kampf zur Bestimmung der Kriterien, wer in unserer Gesellschaft die Wahrheit definiert? Anders gesagt, eine Auseinandersetzung, die man in Begriffen der Transparenz und Opazität beschreiben kann oder vielleicht sogar – und zwar viel effektiver– indem man Vorstellungen von Transluzenz anwendet. Ich glaube, daß eine derartige Intuition dem Werk von Inge Gutbrod innewohnt.

 

Diese Hypothese erscheint mir umso plausibler, als viele von Gutbrods Arbeiten über die Jahre hinweg eine dezidiert architektonische Ausrichtung hatten: Begehbare Strukturen aus stahlgerahmten rechteckigen Wachsblöcken oder das, was man „archi-skulpturale“ Formen nennen könnte, darunter handgemachte knollige Wachskugeln, nur von kleinen Öffnungen durchbohrt, durch welche die Betrachter hindurchspähen können in das diffuse Licht im Inneren. Architektur ist natürlich die räumliche Verkörperung intersubjektiver Beziehungen: Wie nah können wir wem kommen? Wie weit werden wir wovon ferngehalten? Dieser Bezug zur Intersubjektivität ist deutlicher Bestandteil von Gutbrods Ästhetik: „Meine Arbeit hat immer sowohl eine haptische als auch eine visuelle Seite“ betont sie, „sie soll angefaßt werden und letztlich stört es mich nicht, wenn sie dabei beschädigt wird. Transluzenz als architektonisches Prinzip bedeutet eine Überwindung der Transparenzbesessenheit der Hochmoderne, was letztlich einige von Gutbrods ästhetischen Entscheidungen erklären kann. Ihre Arbeit Baumkuchen beispielsweise, im Obergeschoß der Neumarkter Ausstellung, besteht aus Dutzenden von Wachsringen, die bis zur Decke empor aufeinandergetürmt sind, so eine echte Säule in einem ansonsten säulenlosen Raum erzeugen und damit die Aufmerksamkeit auf die Architektur des Ortes lenken. In der Fürther Ausstellung treibt die Künstlerin das Verfahren noch einen Schritt weiter, indem sie die Architektur des Ortes in die Form ihres Werkes einbezieht: 200 kleine vasenähnliche Wachsobjekte sind rings um einen Pfeiler im Ausstellungsraum angeordnet, so daß er vollständig von ihnen umhüllt wird und zum Regal wird. Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, das Ausmaß zu erkennen, in dem Architektur und architekturbezogene Formen vom Unterbewußten bestimmt sind; aber sie hat ein Licht darauf geworfen, wie wir Architektur tatsächlich betrachten sollten – die Bedeutung weicht für immer der Opazität des Objekts oder verschwindet umgekehrt in der Transparenz des Signifikanten. Gutbrods durchscheinende Objekte halten diese dialektische Spannung aufrecht, in dem Versuch, die Architektur sich selbst zu offenbaren.

 

Es geschieht jedoch vor allem aus einem ganz anderen Grund, daß ich die Transluzenz für den Schlüssel zu dem halte, was man die vorherrschende „Gefühlsstruktur“ in Inge Gutbrods Arbeiten nennen könnte. Und das ist der kontemplative Charakter vieler ihrer jüngsten Installationen. Es hat da eine klare Verschiebung von ihrem Gebrauch des Wachses an sich hin zu einer Konzentration auf die durchscheinende Farbe gegeben. Ich denke da insbesondere an die jüngste Installation mit dem Titel Wärmestube (2001-2006), eine rückseitig beleuchtete Komposition, bestehend aus Dutzenden von durchscheinenden Wachs-Kacheln, die im Heidelberger Teil der Ausstellung gezeigt wurde. Die Arbeit erzeugt einen psychedelischen Effekt im Stil der 60er Jahre und setzt zugleich eine warme, fast flammenartige Empfindung frei, wobei der Farb- und Transluzenz-Koeffizient jeder einzelnen Kachel der Gesamtkomposition ihren visuellen Rhythmus verleiht. Von weitem hat man den Eindruck einer gänzlich flachen Oberfläche; bei näherer Betrachtung wird klar, daß das Spiel der Transluzenz von der unterschiedlichen Stärke jeder Kachel hervorgerufen wird, die stets in der Mitte dünner ist.

 

Eben weil ihr Werk im wesentlichen formal bestimmt ist, konnte die Transluzenz gewissermaßen nichts anderes als das Material von Gutbrods Wahl sein. In den Worten des russischen Formalisten Viktor Schklowski:

 

„Um die Empfindung des Lebens wiederzugeben, um Gegenstände zu fühlen, um zu erfahren, daß Stein Stein ist, gibt es das, was man Kunst nennt. Das Ziel der Kunst ist es, dem Objekt eine Wahrnehmung als Vision zu verleihen und nicht als Wiedererkennen. Die Methode der Kunst ist die Methode der Vereinzelung des Objekts und die Methode, welche die Verschleierung der Form beinhaltet, um so die Schwierigkeit und die Dauer der Wahrnehmung zu vergrößern. Der Akt der Wahrnehmung ist in der Kunst Mittel zum Zweck und muß verlängert werden; Kunst ist ein Mittel, das Werden des Objektes zu erleben, was schon „geworden“ ist, hat keine Bedeutung für die Kunst.“

 

Obwohl Gutbrods Arbeit sich vielleicht direkter mit Kontemplation befaßt als mit der Wahrnehmung als solcher, hilft Schklowskis ästhetische Theorie doch zu erklären, was in Gutbrods Arbeit auf dem Spiel steht. Nach Schklowskis ist die künstlerische Sprache eine Art von demonstrativem visuellem Dialekt, dessen Aufgabe es ist, das Erwachen einer erneuerten Wahrnehmung auszulösen. Der künstlerische Gebrauch eines Objektes kann geprüft und gemessen werden nach der Fremdheit seiner Form – „schwierig, reich an Hindernissen“, stellt er fest, aber nie ganz opak– was als ungewöhnlich wahrgenomen wird im Vergleich zu einem gewöhnlichen Gegenstand: Die Form ist also das besondere Kennzeichen der ästhetischen Wahrnehmung und Transparenz ihr schlimmster Feind. Im Zentrum von Schklowskis System begegnet man dem Gegensatz von entschiedener Wahrnehmung und Angewohnheit – ein Gegensatz, der auch in Gutbrods Werk bestimmend ist, insbesondere in Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit der Architektur des Ausstellungsraumes. Gewohnheit ist die erschöpfte Form der Wahrnehmung, die mechanisch, fast algebraisch geworden ist. Das Abstumpfen der Wahrnehmung führt zur Kurzsichtigkeit in Hinblick auf das Objekt; anstatt es zu „sehen“, „erkennt“ man es nur wieder, nimmt es in gewohnheitsmäßiger Weise wahr. Im Gegensatz dazu liegt die Funktion der Kunst darin, die Wahrnehmung des Objekts wiederzubeleben, sie der Gewohnheit zu entreißen, um die bewußte Erfahrung wieder zum Leben zu erwecken. Das Kunstwerk muß ein plötzliches Bewußtsein für die Oberflächen und Formen des Objektes und der Welt freisetzen, die wieder mit einem Teil ihrer ursprünglichen Frische aufgeladen wird. Das Werk erreicht nur den Status der ästhetischen Erfahrung, wenn es ihm gelingt, eine Erneuerung der Wahrnehmung im Betrachter auszulösen; wie Schklowski fortfährt, ist die Arbeit erfolgreich, falls und wenn sie „eine ungewöhnliche Wahrnehmung des Objektes schafft, seine Vision und nicht sein Wiedererkennen.“

 

Man könnte überzeugend argumentieren, daß es die spröde Natur des Wachses ist, ebenso wie seine Transluzenz, die man am ehesten als das Herzstück von Gutbrods Ästhetik bezeichnen kann – eine Möglichkeit, die von der Entscheidung der Künstlerin unterstrichen wird, das Bild zerbrochener rosafarbener Wachsfragmente auf dem Umschlag ihres Kataloges zu verwenden. Aber mir scheint, daß die Transluzenz selber ein zerbrechlicher Zustand ist, immer dazu neigend, einerseits der eindringenden Opazität zu erliegen, andererseits der Verlockung der Transparenz. Dieses ist die Dialektik der Transluzenz und im wesentlichen von Inge Gutbrods Arbeiten: gefangen zwischen strahlender Erkenntnis (heuristischer Offenheit) und trüber Unklarheit (rätselhafter Abgeschlossenheit).

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